Menschen können exponentielles Wachstum nicht so richtig gut begreifen. Wir denken normalerweise eher linear. Nach dem Motto: "Wenn ich doppelt so viel Arbeit in irgendetwas stecke, bin ich doppelt so schnell fertig." Kein Wunder, denn das ist auch die Sichtweise, die uns im alltäglichen Leben weiterhilft. Exponentielles Wachstum funktioniert aber komplett anders, und ich kenne zwei gute Beispiele, an denen man es sich gut verdeutlichen kann.
30 Schritte
Es gibt zum einen das Beispiel mit den 30 Schritten, das ich einmal von dem Hamburger Unternehmer Christoph Magnussen gehört habe:
Blicken Sie jetzt einmal um sich und überlegen Sie, wo Sie in 30 Schritten sein könnten. Können Sie sich das gut vorstellen? Wunderbar. Mit einer durchschnittlichen Schrittlänge vom 1,5 Metern sind Sie damit etwa 45 Meter weit gekommen
((1,5 Meter) * 30 = 45 Meter).
Stellen Sie sich jetzt für ein zweites Gedankenexperiment vor, dass Sie zwar immer noch 30 Schritte machen, aber dass Sie bei jedem Schritt doppelt so viel Strecke zurücklegen, wie beim vorherigen. Also beim ersten Schritt so in etwa 1,5 Meter, beim zweiten drei Meter, beim nächsten sechs Meter und so weiter.
Wo denken Sie, dass sie dann nach 30 Schritten angekommen sind? Noch in Deutschland? Noch in Europa? Vielleicht doch schon in den USA?
Falls Sie die Mathematik nicht langweilt:
(1,5 Meter) * (2^29) = 805306368 Meter = 805306,368 Kilometer
Sie sind also 800000 Kilometer von hier entfernt... Mehr als doppelt so weit weg, wie der Mond von der Erde entfernt ist. Von da an wird es übrigens richtig spannend. Nur ein paar Schritte weiter haben Sie das Sonnensystem verlassen!
Seerosen
Ein anderes Beispiel, das ich neulich auf YouTube gesehen habe (Sobald ich die Quelle wiederfinde, gebe ich sie hier mit an), sind die Seerosen auf einem See. Stellen Sie sich vor, auf einem See gibt es eine Seerose. An jedem Tag verdoppelt sich die Anzahl der Seerosen. Sagen wir weiter, dass der ganze See nach hundert Tagen komplett mit Seerosen bedeckt ist.
Wir können uns nun zwei Fragen stellen, deren Antwort auf den ersten Blick nicht intuitiv richtig erscheint.
- An welchem Tag war der See zu 50 Prozent mit Seerosen bedeckt?
- An welchem Tag war ein Prozent des Sees mit Seerosen bedeckt?
Die Antworten auf diese Fragen werden die meisten Leute schockieren, die es nicht gewohnt sind, mit exponentiellem Wachstum umzugehen.
- Der See war am 99. Tag (also erst am vorletzten Tag) zu 50 Prozent mit Seerosen bedeckt.
- Besorgniserregender ist aber die Antwort auf die zweite Frage: Der See war erst am 93. Tag zu einem Prozent mit Seerosen bedeckt.
Falls ich nicht die technische Möglichkeit habe, pro Tag wenigstens ein Prozent des Sees von Seerosen zu befreien und ich nicht spätestens am 93. Tag damit beginne, diese zu entfernen, habe ich nun keine Chance mehr. Das widerspricht sehr stark linearem Denken: Ich hätte mich des Problems schon dann annehmen müssen, als es noch nicht einmal besonders sichtbar aufgetreten ist.
An diesem Beispiel sieht man aber auch eine natürliche Beschränkung von exponentiellem Wachstum. Da der See zu 100 Prozent mit Seerosen bedeckt und alle Fläche aufgebraucht ist, stoppt das Wachstum am 101. Tag. Diese Art von Wachstum (exponentielles Wachstum, das nicht über eine gewisse Grenze hinaus andauern kann) nennt man auch logistisches Wachstum. Dieses ist auch die "Normalform" von exponentiellem Wachstum in unserer Welt.
Digitalisierung
Aber auch im Digitalen gibt es exponentielles Wachstum. Konkret kann man das zum Beispiel an dem im Jahr 1965 formulierten Gesetz von Moore erkennen:
The number of transistors in a dense integrated circuit doubles about every two years.
Die Transistordichte in einem Mikrochip verdoppelt sich alle zwei Jahre. Extrem vereinfacht, aber nicht hundertprozentig richtig, bedeutet das auch, dass sich die Geschwindigkeit von neuen Computern alle zwei Jahre verdoppelt.
Wenn Sie jetzt gerade beispielsweise denken, dass etwa die künstliche Intelligenz die Welt verändert, die wir im Moment in der Cloud kennen und spannende Auswertungen auf Bigdata-Basis möglich macht, dann sollten Sie sich einmal mit Ray Kurzweil (Futurist und "Director of Engineering" bei Google) beschäftigen.
Er sagt für das Jahr 2029 (richtig gelesen: in nur 9 Jahren) voraus, dass dann ein handelsüblicher, 1.000 Dollar teurer Computer 1000-mal so leistungsfähig sein wird, wie das menschliche Gehirn. Kurzweil lag bisher zu 87 Prozent mit seinen anderen Vorhersagen richtig.
Was die allgemeine Verfügbarkeit solch einer Rechenleistung für die Wirtschaft und die Gesellschaft im Allgemeinen bedeuten wird, ist kaum vorzustellen. Die Welt wird sich aber sicher in zehn Jahren komplett verändert haben.
Mit starren Prozessen, die Monate oder gar Jahre brauchen, um sich auf neue Herausforderungen einzustellen, wird man es sehr wahrscheinlich nicht hinkriegen, mit der sich rapide ändernden Welt Schritt zu halten. Dafür ist ein gewisses Umdenken zu schnellen, flexiblen und agilen Prozessen, Mindsets und Geschäftsmodellen nötig, welches wir uns jetzt schon angewöhnen müssten.
Pandemien
Viren verbreiten sich ebenfalls mit exponentieller Geschwindigkeit und darin besteht auch ihre Gefahr. In den ersten Tagen und Wochen stecken sich nur sehr wenige Menschen mit dem Virus an. Und diese sind meist von einem persönlich weit entfernt und man fühlt sich sicher. Dann – schlagartig – hört man von den ersten Fällen im eigenen Umfeld und ein oder zwei Tage später ist auf einmal jeder krank, den man kennt.
Das einzige, was wir – gerade in Zeiten des Corona-Virus – dagegen tun können, ist den exponentiellen Wachstumsfaktor abzuschwächen und damit dafür zu sorgen, dass die tägliche Steigerung von Neuansteckungen unterhalb der Grenze der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems bleibt – und das lange, lange bevor es auch nur den Anschein hat, dass das System überlastet sein könnte.
Um das zu schaffen, müssen wir als Gesellschaft die tägliche Infektionsrate verringern und dafür sorgen, dass die logistische Grenze der exponentiellen Neuansteckungen im Idealfall kleiner als 1 wird (im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen, bei denen sie bei 2 lag).
Die Infektionsrate setzt sich hier aus zwei Faktoren zusammen:
- Die Anzahl der sozialen Kontakte, die Personen im Durchschnitt täglich haben und an die das Virus weitergegeben werden könnte.
- Die Wahrscheinlichkeit der Übertragung von einer Person zur nächsten.
Daraus resultieren auch die beiden wichtigsten Schritte, die wir im Moment ergreifen können:
- Jeder von uns muss sich möglichst weit von anderen Personen fernhalten und soziale Kontakte massiv einschränken. Dadurch minimieren wir die Anzahl derer, die sich anstecken könnten.
- Jeder von uns muss einfache und eigentlich auch selbstverständliche Hygieneregeln einhalten, wie etwa sich regelmäßig die Hände mit Seife zu waschen, immer nur in die Armbeuge zu husten und viele andere sehr einfach einzuhaltende Regeln.
Nur so können wir vielleicht sicherstellen, dass die Grenze des logistischen Wachstums in dieser Pandemie unterhalb der Grenze der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems bleibt und vielleicht eine Katastrophe verhindern.